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Ethische Aspekte der Genomanalyse

Alberto Bondolfi, Universität Zürich und Lausanne

Dieser Beitrag wurde als Vortrag von Prof. Bondolfi anlässlich des Basler Forums Technik & Gesellschaft am 14.9.2001 zu dem Thema "Das menschliche Genom ist entschlüsselt - Was nun?" im Pharmazentrum der Universität Basel gehalten.

Das Kürzel HGP bezeichnet eine Reihe von Forschungsinitiativen der letzten Jahrzehnte, welche schliesslich zur fast vollständigen "Kartierung" des menschlichen Genoms führten. Wie sind diese Erkenntnisse einzuschätzen? Dazu bedarf es mehrerer Antworten aus verschiedenen Perspektiven. Eine einzelne Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Einige Teileinschätzungen seien hier kurz skizziert:

  • Die fast vollständige Kartierung des menschlichen Genoms impliziert noch nicht, dass man damit die ganze genetische Ausstattung dieses Lebewesens entschlüsselt hätte. Die Summe der Kenntnisse der einzelnen Teilelemente führt nicht unbedingt zur Kenntnis des Ganzen. Interaktionen einzelner Teile sind ebenfalls nicht einfach über die Summe der Einzelteile ausdrückbar.
  • Das Wort Kartierung bedeutet nur, dass die Teilelemente, die Gene, lokalisiert sind. Es bedeutet nicht, dass alle ihre möglichen Funktionen bekannt wären. Das HUGO Projekt verrät durch das metaphorische Reden über eine "Karte", dass wir noch in einem prolegomenarischen Stadium unserer Kenntnisse der Genetik stehen, und dass man noch weiterforschen muss, um die Funktionen und Interaktionen der menschlichen Gene besser verstehen zu lernen.
  • Trotz aller dieser einschränkenden Bemerkungen muss man aber anerkennen, dass die vollständige genetische Kartierung eine epochale Wende in unseren Kenntnissen der biologischen Ausstattung des Menschen darstellt. Es handelt sich um eine paradigmatische Revolution der Grundlagenforschung in der Humanbiologie. Die möglichen und wünschenswerten klinischen Konsequenzen stehen freilich auf einem anderen Blatt und sollten nicht mit den erwähnten Kenntnissen vermischt werden.

Die vollständige Kartierung des menschlichen Genoms hat auch unser Selbstverständnis beeinflusst. Eine erste Veränderung in der Wahrnehmung des Menschen, die man in letzter Zeit beobachten kann, und die in Zusammenhang mit der genetischen Betrachtung der Krankheit mit der dazugehörenden Diagnostik und Therapie steht, ist diejenige, welche meint, im Genom sei unsere ganze Existenz prädisponiert.

Als das Klonschaf Dolly geboren wurde, haben die Medien das eigentlich Neue an der Geschichte etwas vernachlässigt, nämlich dass eine Reproduktion aus einer entkernten Eizelle, die mit dem Kern einer somatischen Zelle versehen wurde. Sie haben vor allem verkündet, dass es nun möglich geworden wäre, beliebige Persönlichkeiten (von Hitler über Einstein und Marilyn Monroe) zu vervielfältigen. Diese Botschaft ist nicht nur moralisch hinterfragbar, sondern sie ist vor allem faktisch falsch.

Wie ist eine solche Deutung einer naturwissenschaftlichen Revolution möglich geworden? Man könnte meinen, dass die verkürzte Wahrnehmung der genetischen Pathologie und die Zurückführung komplexer Eigenschaften, wie etwa die sexuellen Präferenzen eines Individuums auf ihre genetische Ursache, das Resultat eines vereinfachenden Denkens wäre.
Ich bin der Meinung, dass solche Vereinfachungen das Resultat einer fehlenden Grundlagenreflexion über den Menschen auf ihrer prinzipiellen Ebene sind. Mit anderen Worten: Die neuere naturwissenschaftliche Forschung an der genetischen Konstitution des Menschen wurde nicht von einer entsprechenden philosophisch-anthropologischen Reflexion begleitet.

Diese Kritik richtet sich an die genetische Forschung wie auch an die Philosophie. Die erste hat vielleicht oft Metaphern benutzt, um komplexe Phänomene der Natur oder des menschlichen Körpers nicht nur zu beschreiben, sondern bereits zu deuten, so dass diese Metaphern sich verselbstständigt haben und nicht mehr dem besseren Verständnis eines Phänomens dienen.
Auch die Sensibilität für den qualitativen Unterschied zwischen Fakten und ihrer Deutung ist zum Teil verschwunden. Somit können sich Reduktionismen als auch mythologische Deutungen natürlicher Phänomene leicht durchsetzen. Philosophische Forschung hätte ihrerseits stärker daran erinnern sollen.

Ähnliche Tendenzen sind auch in anderen Forschungssparten der heutigen Medizin festzustellen. Man denke etwa an die Neurowissenschaften und an die neuere Hirnforschung. Lässt sich zum Beispiel die menschliche Identität auf die Summe der Wirkungen und Interaktionen unserer Neuronen reduzieren?
Hinter jeder ethischen Theorie stehen, explizit oder implizit, anthropologische Annahmen, also Menschenbilder, die indirekt auch normativ auf die Wahrnehmung der Handlungskonflikte wirken können. Sie sind aber nicht die alleinige direkte Ursache der normativen Positionen, welche man in den verschiedenen ethischen Ansätzen vertritt.
Anthropologische Verkürzungen, also ungebührend vereinfachende Auffassungen des Menschen, lassen sich weder mit religiösen Appellen noch mit moralisierenden Mahnungen überwinden, sondern durch eine weitere Vertiefung der anthropologischen Reflexion. Sie ist auch und vor allem anlässlich der vollzogenen Kartierung des menschlichen Genoms dringlich und unerlässlich.

Normative Probleme der Genomanalyse

Wenn von Ethik im Zusammenhang mit der Genomanalyse die Rede ist, wird oft behauptet, dass man angesichts einer so tiefgreifenden Umwälzung, wie eben die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, eine ganz neue Ethik brauche. Die klassischen Prinzipien und Normen der philosophischen und theologischen Traditionen würden nicht mehr ausreichen und kaum mehr helfen, das Gute in diesem Lebensbereich zu lokalisieren und zu legitimieren.
Das erklärt die starke Zunahme an Literatur in der sogenannten Bioethik und Genethik. Diese Forderung nach einer ganz neuen Ethik ist für mich schwer nachvollziehbar. Warum sollen wir eine ganz neue Vorstellung des guten und gelungenen Lebens entwerfen, um die Konflikte der neuen genetischen Forschung nachzuvollziehen und um zu versuchen, sie zu bewältigen?
Selbstverständlich zwingen uns der innovative Charakter dieser Forschung und der dazugehörenden Errungenschaften, die klassischen Prinzipien und Normen neu auszulegen und anzuwenden. Das führt aber nicht automatisch zur Entstehung einer ganz neuen Ethik, sondern höchstens zu neuen Feldern der angewandten Ethik.

Ich gebe zugleich zu, dass eine distanzierte Betrachtung der neuen Möglichkeiten der Genomanalyse allein noch nicht in der Lage ist, uns die Kriterien und Gebote in Erinnerung zu rufen, welche hier neu ausgelegt werden sollten. Ethische Kreativität ist also angesagt und die klassischen Gebote- und Verbotskataloge (von den 10 Gebote des Alten Testamentes bis zu den Medizinkodizes) suggerieren nicht mehr automatisch den richtigen Weg.
Im Folgenden möchte ich einige ethische Überlegungen erläutern, die in Zusammenhang mit inzwischen klassisch gewordenen Grundprinzipien der biomedizinischen Ethik stehen.

Genomanalyse und Autonomieprinzip

Interventionen an unserem Körper, sei es am kranken oder am gesunden Körper, dürfen unsere Selbstbestimmungskraft nicht verletzen. Bei erwachsenen und urteilsfähigen Menschen lässt sich diese Forderung durch den sogenannten informed consent relativ leicht konkretisieren. Wir können nicht dazu verpflichtet werden, unsere genetischen Prädispositionen zu kennen, auch im Falle, dass eine solche Kenntnis uns eindeutige Vorteile bringen würde. Niemand kann dazu gezwungen werden, seine genetische Situation durchforschen zu lassen.
Eine Ungleichbehandlung nur aufgrund der Kenntnis einer genetischen Information über eine Person ist unbegründet und als Diskriminierung anzusehen.
Wir können uns also auf ein Recht auf Wissen als auch auf Recht auf Nichtwissen berufen, und diese beide Ansprüche sind wohl begründet in der Tatsache, dass wir auch über unsere genetische Ausstattung autonom befinden dürfen und sollen.

Schwieriger wird es, wenn Menschen noch nicht mehr selbst urteilsfähig sind, oder es nie mehr sein werden. Eine andere, eine sogenannte advokatorische Instanz muss hier stellvertretend die Interessen dieser betroffenen Personen wahrnehmen, interpretieren und durchsetzen. In der heutigen Debatte über diese Probleme scheint sich eine Position behaupten zu wollen, welche dazu tendiert, im Zweifelsfall für einen Verzicht auf eine genetische Analyse zu plädieren.
Ich habe Mühe mit einem solchen vorsorglichen Verzicht, da er davon ausgeht, dass sich eine genetische Analyse oder Diagnose im Zweifelsfall gegen die Interessen der betroffenen Person richten würde. Gegen einen solchen prinzipiellen Misstrauenspessimismus würde ich nicht mit einem ebenso naiven Optimismus kämpfen, sondern ich würde versuchen, die Ambivalenz des Angebotes der genetischen Medizin zu überwinden, indem die stellvertretende Entscheidung durch weitere konsiliarische Dienste (second opinion) ergänzt würde.

Genomanalyse und Fürsorge

Die Ambivalenz der Angebote der genetischen Medizin werden noch sichtbarer, wenn man sich fragt, in welchem Sinne sie nicht nur der Autonomie, sondern auch dem Wohl des Patienten dient. Es gibt keine Zauberformel, um das Wohltätigkeitsprinzip oder das Übelvermeidungsprinzip angemessen auszulegen. Ich begnüge mich damit, diese Ambivalenz am Beispiel der pränatalen Diagnostik zu konkretisieren.
Widersprechen die Angebote der pränatalen Diagnostik dem Prinzip und zugleich Gebot der Wohltätigkeit bzw. der Übelvermeidung? Auch hier gibt es keine einfache Antwort, und leider stehen wir in der Diskussion über die Pränataldiagnostik immer noch vor Missverständnissen und Fehldeutungen.
Unter den Fehldeutungen möchte ich nur die bekanntesten und verbreitetsten nennen: Die Pränataldiagnostik sei moralisch nicht akzeptabel, da sie mit gentechnologischen Verfahren operiere. Diese Bewertung ist in doppelter Hinsicht hinterfragbar: In faktischer Hinsicht kann man sehen, dass es Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostizierung bereits vor der Einführung von Gentests gegeben hat. In normativer Hinsicht kann man bemerken, dass die moralische Brisanz nicht direkt mit der Genomanalyse des Fetus zu tun hat, sondern mit den möglichen Folgen einer solchen Diagnostik. Unter den möglichen Folgen steht die Unterbrechung der Schwangerschaft als Folge eines Urteils über die Zumutung ihrer Fortführung. Diesen Konflikt möchte ich hier nicht diskutieren, eine Präzisierung scheint mir aber notwendig. Er wäre verfehlt, die Anwendungen der Genomanalyse zur Hauptursache für die Brisanz der Schwangerschaftsabbruchsfrage verantwortlich machen zu wollen. Beide Probleme haben selbstverständlich etwas miteinander zu tun, müssen aber hier sauber unterschieden werden. Genomanalyse und Fürsorgegebot stehen also nicht unbedingt im Widerspruch, wenn auch manche Ambivalenzen zu Tage kommen. Die ethische Reflexion sollte weiter daran arbeiten.

Genomanalyse und Gerechtigkeitsprinzip

Wie steht es nun mit dem dritten Grundprinzip der Bioethik, nämlich mit dem Gerechtigkeitsprinzip? Auch hier muss man sich vor vorschnellen Ablehnungen hüten. Die Genomanalyse eröffnet der Medizin die Möglichkeit der prädiktiven Aussage über die Zukunft der Gesundheit eines Menschen.
In sich betrachtet, ist eine solche Möglichkeit als eine Erweiterung der Freiheit und eine partielle Einschränkung der Zukunftskontingenz zu betrachten. Wir Menschen haben in der Regel solche Erweiterungen bisher als positiv begrüsst: so werden die Wetterprognosen und die Börsenberichte ohne Gewissensbisse gelesen.
Hier geht es jedoch um eine viel ambivalentere Zukunftsprognose. Wenn die Krankheit, die prädiktiv angekündigt wird, irgendwie behandelbar ist oder verhütet werden kann, dann sind wir bereit, auch schlechte Prognosen in Kauf zu nehmen. Wenn hingegen eine solche prädiktive Aussage keine positiven Konsequenzen für die Behandlung der möglichen künftigen Krankheit hat, dann ist die Bereitschaft, solche Aussagen zu hören, wesentlich kleiner.
Noch komplexer wird das ethische Urteil über solche prädiktiven Aussagen, wenn sie nicht in der apodiktischen Form des "ja" oder "nein" kommen, sondern in statistischer Manier. Wahrscheinlichkeitsaussagen sind psychisch sehr schwer zu verarbeiten und noch unsicherer fällt ein ethisches Urteil darüber aus.
Dienen statistische Annahmen oder Prädiktionen unserer Lebensgestaltung, oder sind es Hindernisse, die man nicht gut begründen kann? Die bisherigen Antworten, welche auch in Gesetzesentwürfen zu finden sind, sind korrekt, aber noch unzureichend.

Die Zurückführung des Urteils und der Entscheidung auf das Individuum, mit anderen Worten die Lösung des Konfliktes durch das Autonomieprinzip, ist zwar notwendig aber nicht ausreichend. Viele Menschen sind nicht in der Lage ihre eigenen Interessen zu definieren und angemessen mitzuteilen. Sie brauchen Hilfe.

In diesem Sinne begrüsse ich den jetzigen Gesetzesentwurf, der sowohl der Wissenschaftsfreiheit als auch den Bedürfnissen der Patient/innen Rechnung trägt. Eine professionelle und nichtdirektive Beratung gehört hiermit zur Lex artis und Genetiker/innen sollten sich in diesem Bereich entweder ausbilden lassen oder diese Arbeit an kompetente Akteure delegieren.
Die Genomanalyse kann sowohl ein Instrument grösserer Solidarität unter den Menschen als auch Anlass für weitere Diskriminierungen werden.
Es liegt an uns Bürger/innen eines demokratischen Gemeinwesens, durch eine angemessene Gesetzgebung die Solidarität zu maximieren und die Diskriminierung zu minimieren.


© Copyright Zentrum BATS: Kontakt Legal Advisor: Advokatur Prudentia-Law Veröffentlichungsdatum: 2001-10-17

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