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Löst die Entschlüsselung des menschlichen Genoms relevante
	Gesundheitsprobleme? 
Matthias Baumgartner, Universitäts-Kinderspital beider Basel
In seinen Croonian Lectures 1908 diskutierte Sir Archibald Garrod erstmals 
  den von ihm geschaffenen Begriff "inborn factors of disease" (1). 
  Er erkannte am Modell der Alkaptonurie, dass familiär auftretende Krankheiten 
  nach den Regeln von Mendel vererbt werden können. Alkapatonurie wurde so 
  zur ersten Krankheit, für welche ein rezessiver Erbgang postuliert wurde. 
  Etwa 50 Jahre später demonstrierte Ingram, dass die elektrophoretische 
  Abnormalität bei der Sichelzellanämie das Resultat einer Auswechslung 
  der Aminosäure Glutaminsäure durch Valin in der b-Kette des Hämoglobins 
  war (2). In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden enorme Fortschritte 
  in der molekularen Charakterisierung von Erbkrankheiten gemacht. Mit der Vollendung 
  des Human Genome Project wird in Bälde die molekulare Entschlüsselung 
  aller monogenen Erbkrankheiten erwartet. Auch im Verständnis der molekularen 
  Pathogenese der häufigsten multifaktoriellen Krankheiten wie koronare Herzkrankheit, 
  Diabetes, Asthma, Krebs und Alzheimer erhofft man sich grosse Fortschritte (3,4). 
  Die Entschlüsselung der Gendefekte von monogenen Erbkrankheiten ist eine 
  Erfolgsstory. Gegen 1000 dieser Gene wurden in den letzten 20 Jahren isoliert 
  und charakterisiert (5). Dies führte zur Entwicklung von pränataler 
  Diagnostik, Untersuchungen zur Identifizierung von Genträgern und präsymptomatischen 
  Tests für Krankheiten wie z.B. zystische Fibrose und muskuläre Dystrophien. 
  Obwohl dieser Fortschritt für die betroffenen Familien von grosser Bedeutung 
  ist, bleibt die Auswirkung auf die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung 
  gering, da die meisten monogenen Erbkrankheiten selten sind. Dies könnte 
  sich dann ändern, wenn uns die Kenntnis der 2.9 Gigabasen des menschlichen 
  Genoms dabei hilft, Risikogene für die häufigsten multifaktoriellen 
  Krankheiten wie koronare Herzkrankheit, Diabetes, Asthma, Krebs und Alzheimer 
  zu identifizieren. 
Angeborene Stoffwechselstörungen wie z.B. die Phenylketonurie passen gut 
  in das "ein Gen - ein Enzym" Schema, d.h. ein Gendefekt definiert 
  eine biochemische Krankheit. Als in den letzten Jahren die Molekulargenetik 
  in der Medizin Einzug hielt, herrschte die weitverbreitete Meinung oder zumindest 
  Hoffnung, dass bei bekanntem Genotyp an einem Lokus die damit einhergehende 
  klinische Manifestation einer Krankheit (Phänotyp) vorausgesagt und ein 
  angepasstes therapeutisches Vorgehen eingeleitet werden könnte. In der 
  Zwischenzeit ist allgemein anerkannt, dass sogar bei monogenen Erbkrankheiten 
  andere Gene und die Umwelt eine wichtige Rolle spielen können (6). Im Folgenden 
  wird am Beispiel einer Stoffwechselerkrankung, der 3-Methylcrotonylglycinurie, 
  diese oft fehlende Genotyp-Phänotyp Korrelation erörtert. 
Die isolierte, biotin-resistente 3-Methylcrotonyl-CoA Carboxylase (MCC) Defizienz, 
  die sogenannte 3-Methylcrotonylglycinurie, ist eine autosomal rezessiv vererbte 
  Stoffwechselstörung im Abbau von Leucin. Der Phänotyp ist variabel. 
  Sogar in der gleichen Familie können sich neben schwer erkrankten Neugeborenen 
  Kinder mit dem gleichen Gendefekt absolut normal entwickeln. Diese Krankheit 
  kann seit kurzem einfach und sicher mit der Tandem-Massenspektrometrie im Neugeborenenscreening 
  erfasst werden. Dies hat unerwarteterweise dazu geführt, dass sich die 
  Zahl solcher "Patienten" sehr stark vermehrt hat. Es ist vorauszusehen, 
  dass eine grosser Teil dieser "Patienten" symptomlos bleiben wird. 
  Die Frage stellt sich, welche dieser Kinder von einer Frühbehandlung profitieren. 
MCC besteht aus biotinhaltigen a-Untereinheiten und kleineren b-Untereinheiten. 
  Dank der rasant fortschreitenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms 
  gelang uns die Klonierung der cDNA und strukturellen Gene beider Untereinheiten 
  innerhalb weniger Monate. Bisher fanden wir 16 verschiedene Mutationen in über 
  30 Patienten und bewiesen die funktionelle Relevanz dieser Mutationen in Expressionsstudien 
  (7). Die Analyse der erhofften Genotyp-Phänotyp Korrelation jedoch war 
  enttäuschend. So führte z.B. der gleiche Genotyp beim einen Patienten 
  zu einer schwerwiegenden Erkrankung mit bleibenden Schäden, während 
  ein anderer Patient symptomlos blieb. Daraus lässt sich schliessen, dass 
  andere Faktoren, z.B. modifizierende Gene und/oder Umweltfaktoren, einen entscheidenden 
  Einfluss auf den Phänotyp dieser Krankheit ausüben müssen. 
Dieses Beispiel illustriert einige der Vorteile, welche sich durch die Entschlüsselung 
  des menschlichen Genoms für den klinischen Forscher ergeben: Die Klonierung 
  einer cDNA inkl. strukturellen Gens erforderte vor 10 Jahren etwa 4-5, vor 5 
  Jahren 1-3 "Postdocjahre", während das gleiche Resultat heute 
  in 1-2 Monaten erreicht werden kann. Damit bleibt nach der Erarbeitung der molekularen 
  Grundlage mehr Zeit zur Erforschung des grundlegenden biologischen Defekts auf 
  der biochemischen, zellulären und physiologischen Ebene. Ein zweiter Vorteil 
  besteht darin, dass mit Hilfe der Entschlüsselung des menschlichen Genoms 
  Strategien entwickelt werden können, um das ganze Genom nach modifizierenden 
  Genen abzusuchen. 
  Weitere, relativ häufige Beispiele für die Komplexität von "einfachen" 
  monogenen Erbkrankheiten sind Hämochromatose, b-Thalassämie und Phenylketonurie 
  (6,8,9). 
Der Einfluss genetischer Faktoren ist bei den häufigeren multifaktoriellen 
  Krankheiten wie koronare Herzkrankheit, Diabetes, Asthma, Krebs und Alzheimer 
  meist noch viel subtiler. Diese Krankheiten sind durch die Interaktion von vielen 
  Genen schwacher Penetranz mit Umweltfaktoren, sowie mit Alterungsprozessen, 
  die sich ebenfalls auf molekularer Ebene abspielen, mitbedingt. Dabei haben 
  die einzelnen genetischen Varianten oft wenig prädiktiven Aussagewert über 
  Entstehung oder Verlauf einer Krankheit. Diese Komplexität ist in der Öffentlichkeit 
  schwer zu vermitteln. Deshalb stürzen sich die Medien auf einzelne genetische 
  Faktoren als Ursache einer in Wirklichkeit multifaktoriellen Krankheit. Das 
  Ausbeineln des Wechselspiels von genetischen Faktoren und Umweltfaktoren auf 
  diese Krankheiten ist eine grosse Herausforderung. Risokogene für multifaktorielle 
  Krankheiten werden zur Zeit mit Hilfe von "genome scans" und grossen 
  Populationstudien gesucht (10,11). Die Entschlüsselung des menschlichen 
  Genoms und die Charakterisierung von Millionen von Einzelnukleotid Polymorphismen 
  (SNPs) haben die Aussicht auf eine erfolgreiche Identifikation solcher Risokogene 
  deutlich erhöht. Die Kenntnis solcher Gene würde die Identifikation 
  von Personen mit erhöhtem Risiko für eine bestimmte Krankheit erlauben, 
  Präventivmassnahmen verbessern sowie eine in Bezug auf das genetische Profil 
  und den Krankheitssubtyp zugeschnittene Therapie ermöglichen (8). Als Folge 
  dieser Entwicklung darf als sehr wahrscheinlich angenommen werden, dass die 
  Genotypisierung von SNPs bald ein Teil des Routine Management einer steigenden 
  Zahl multifaktorieller Krankheiten sein wird. 
Zusammenfassung: "Einfache" monogene Erbkrankheiten sind in Wirklichkeit 
  oft komplex, beeinflusst von modifizierenden Genen und Umweltfaktoren. Eine 
  exakte klinische Prognose ist deshalb oft sogar für solche Krankheiten 
  sehr schwierig. Umso komplexer sind die Interaktionen zwischen Genen, Umwelt 
  und betroffenen Individuen bei den häufigen multifaktoriellen Krankheiten. 
  Zweifelsohne wird die Genetik als molekulare Grundlage zum Verständnis 
  menschlicher Krankheit in Zukunft einen wichtigen Einfluss auf die Volksgesundheit 
  haben. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms leistet einen massgeblichen 
  Beitrag zur Beschleunigung dieser "genetischen Revolution in der Medizin". 
  Allerdings befinden wir uns erst am Anfang eines langen und beschwerlichen Weges 
  von der wissenschaftlichen Innovation zur täglichen medizinischen Praxis. 
1) Lancet 1908;2:1-7 
  2) Nature 1956;178:792-94 
  3) Nature 2001;409:860-921 
  4) Science 2001;291:1304-51 
  5) Nature 2001;409:853-55 
  6) BMJ 2000;321:1117-20 
  7) JCI 2001;107:495-504 
  8) NEJM 1999;341:28-37 
  9) J Inher Metab Dis 2001;24:93-116 
  10) Nature 2000;405:847-56 
  11) BMJ 2001;322:1031-34 
			 
			 
			
			
			
			
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