| Sie sind hier: Medizin > Genforschung > Forum 2001 > Human Genome Project HGP The Human Genome Project und seine Folgen für Menschenbild und EthikChristoph Rehmann-Sutter, Universität BaselDas Human Genome Project (HGP) eröffnet eine Vielzahl neuer biomedizinischer 
  Möglichkeiten und verändert dabei das Verhältnis, das wir kulturell 
  und gesellschaftlich zum Körper einrichten. Das ist Bestandteil des allgemeinen 
  Bewusstseins und Gegenstand weit verbreiteter Sorgen. 
 Der menschliche Leib wird durch die Kenntnis des Genoms auf eine neuartige 
  Weise erfahrbar und auch manipulierbar. Die Macht, die damit entsteht, kann 
  zur Prognostik, Prävention und Therapie z.T. bisher unbehandelbarer Leiden 
  genutzt werden. Die Medizin wird durch den molekularen Aspekt revolutioniert. 
  Auch ein Bestandteil dieses allgemeinen Bewusstseins ist die Tatsache, dass 
  das HGP gleichzeitig Missbrauchspotentiale und neue moralische Dilemmas schafft. 
  Es sind nicht nur Hoffnungen, sondern auch Lasten mit der molekularen Medizin 
  verbunden. Kommt es sogar zu Situationen, wo unsere Verantwortung überlastet 
  wird? Reicht unsere Verantwortungskompetenz so weit wie unsere Manipulations- 
  und Kontrollmacht reicht? Nicht nur der offensichtliche Missbrauch und seine 
  Verhinderung, sondern auch der "normale" Gebrauch in der Medizin ist 
  mit beunruhigenden ethischen Fragen verbunden, denen sich unsere Gesellschaft 
  stellen muss. Als Beispiel sei die Entwicklung und Anwendung von Gentests genannt, seien sie 
  prä- oder postnatal, geschehe es in Form organisierter Screenings, im Zusammenhang 
  mit klinischer Forschung, im Kontext der Pharmakogenetik oder der genetischen 
  Epidemiologie oder bloss im individuellen, privaten Gebrauch, innerhalb von 
  Familienbeziehungen. Alle Anwendungen stellen einzigartige und neuartige Fragen. 
  Eine davon: Wieviel Wissen über Gesundheitsrisiken ist der Gesundheit und 
  Lebensqualität noch förderlich und wann beginnt quasi der Grenznutzen, 
  wann wird die scheinbare Krankheitsprävention selbst zu einer so grossen 
  Belastung oder gar zu einer gesellschaftlich organisierten Manie, dass es den 
  Betroffenen nicht mehr gut tut, obwohl es vielleicht quantitativ die Lebenserwartung 
  steigert? Droht uns mit der Genomanalyse eine Art Präventionsfalle?
 Das HGP hat spezifische Folgen in allen Sparten der Medizin und weit über 
  die Medizin hinaus, die heute erst zu einem kleinen Teil absehbar sind. Eine 
  unmittelbare forschungspolitische Folgerung ist meiner Ansicht nach, dass wir 
  (die Gesellschaft) zum eigenen Vorteil Anstrengungen unternehmen sollten, um 
  diese Folgen prospektiv zu untersuchen und zu diskutieren, bevor sie wegen blosser 
  Macht der Fakten dann dereinst unlösbar gemacht worden sind. Das HGP verlangt 
  eine begleitende Erforschung der ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen 
  Implikationen, sog. ELSI-Begleitforschung. In der Schweiz wurde sie bisher noch 
  nicht systematisch etabliert, im Gegensatz zu anderen Ländern, wie Deutschland 
  oder die USA. Ich möchte einen Gedanken zur Diskussion stellen, der mit den beiden Begriffen 
  im Titel "Menschenbild" und "Ethik", und mit ihrem Zusammenhang 
  unmittelbar zu tun hat. Ethik und Menschenbild sind nicht getrennte Bereiche: 
  Denn wir verstehen ethische Probleme im Zusammenhang von und mit Hilfe von Vorstellungen 
  unserer eigenen Identität, unseres Wesens, unseres Schicksals, unserer 
  Ziele, unserer Hoffnungen. Diese sind vom HGP wesentlich betroffen. Ich sehe in der Genetik eine kollektive Unternehmung zur Neubeschreibung des 
  Menschen und von Leben allgemein. Diese Vorstellungen unserer eigenen Identität, 
  unseres Wesens, unseres Schicksals, unserer Ziele, unserer Hoffnungen werden 
  durch die Vermutung einer inneren Determinierung durch Gene verändert. 
  Erst recht durch die Wissbarkeit genetischer Information. Beziehungen werden 
  neu konfiguriert: Nicht nur Beziehungen zu anderen Menschen, deren genetische 
  Anlagen ich möglicherweise wissen kann. Indem ich selbst meine eigenen 
  genetischen Eigenschaften erfahren kann (zumindest kleine Bruchstücke), 
  wird unterhalb der spürbaren Oberfläche und sinnlichen Erfahrbarkeit 
  des eigenen Leibes eine Ebene von Bestimmungsfaktoren vermutet, die uns verborgen 
  sind, sich nur mittels technischer Massnahmen - den Gentests - erfahren lassen. 
  Der Leib ist das Stück Natur, das wir selbst sind (Gernot Böhme). 
  Insofern ist mit der Umstimmung des Leibverhältnisses immer auch eine Umstimmung 
  des Naturverhältnisses verbunden. Identität ist aber etwas, was sich 
  in solchen Beziehungen ergibt. Unsere Identität, also das, was wir von 
  uns selbst glauben, wer wir sind, ist ein Ergebnis der Auslegung von Abgrenzungen, 
  unter anderem gegenüber der Natur, die wir selbst nicht sind. Das "Menschenbild" 
  oder unsere Identität als "Menschen" entsteht dabei aber kommunikativ, 
  in Beziehungen zu anderen. Die Formung dieses Beziehungsbegriffes ist eine kollektive 
  menschliche Aktivität, für deren Sorgfalt wir ethische Verantwortung 
  tragen. Ein zentrales Element in diesem identitätsstiftenden Auslegungsverhältnis 
  ist das folgende: Wir begegnen dem Unbekannten immer mit gewissen Vorverständnissen. 
  Wir integrieren es in unser Weltverständnis. Für Unbekanntes müssen 
  wir Interpretationsmuster finden. Gene, die DNA, sind zunächst Unbekanntes. 
  Sie traten hinein in Diskurse, die sich bereits um das Wesen des Menschen auseinandersetzten. 
  Die Figur war bereits entstanden, dass es ein inneres Wesen gebe, das die Dinge, 
  auch die Menschen von innen heraus organisiere und sie zu dem mache, was sie 
  sind. Was lag näher als zu vermuten, die DNA gehöre zu diesen inneren 
  wesensstiftenden Faktoren? Was früher Seele hiess, wird heute oft mit DNA 
  identifiziert. Anders könnte man gar nicht vermuten, dass ein Klon eine 
  Vervielfachung derselben Persönlichkeit ist. Wir wissen aber, dass diese 
  Vermutung falsch ist. Die DNA erfüllt diese essenzialistischen Erwartungen 
  nicht. Für mich ein erstaunlicher Vorgang dieses Jahres ist die Offenlegung der 
  menschlichen Genomsequenz. 3 Milliarden Basenpaare bilden bloss gerade 30-40'000 
  Gene (gezählt nach Promotersequenzen). Weitestgehend unverstanden ist, 
  wie es möglich ist, dass sich ein so hochkomplexes und sensitives Entwicklungssystem 
  Mensch mit nur so wenigen molekularen Bestimmungsfaktoren überhaupt erfolgreich 
  differenzieren und entwickeln kann. Gleichzeitig sind die Zeitungen um diese 
  Zeit voll gewesen mit verständlichen Erklärungen und Kommentaren. 
  Das Unerklärliche können wir also doch irgendwie verstehen. Wir interpretieren 
  es und bauen es ein in unsere Welt- und Menschenbilder. Interpretation schleicht 
  sich sogar dort ein, wo auf das fehlende Verständnis hingewiesen wird. 
  Das Titelblatt zum Zeit dokument Nr. 1, 2001 "Das menschliche Genom" 
  enthält z.B. den folgenden Satz:"Der Text ist da, jetzt müssen die Forscher ihn lesen lernen."
 Lesen lernen heisst molekularbiologisch natürlich: Funktionen erforschen. 
  Welche Proteine werden wie von welchen DNA-Abschnitten codiert, wie funktionieren 
  diese Proteine, wie werden sie und ihre Synthese reguliert etc.? Mit dem Wort 
  "Text" ist aber ein ganzes Feld von Konzepten gesetzt: nämlich 
  eine ganze Theorie des Genoms! Gene seien etwas wie eine verstehbare Schrift. 
  Eine Art Vorschrift in unseren Körpern dafür, wie unsere Körper 
  sich selbst machen können. Die Zellen seien mit Leseapparaturen ausgestattet 
  und befolgen gleichzeitig, gerade indem sie sich ablesend betätigen, die 
  Vorschriften, die in ihnen vorliegen. Die Idee der Gene als Elemente eines "genetischen 
  Programms" ist eine sehr verbreitete und sehr potente Plausibilisierungsmethode 
  der Genetik. Aber sie ist Interpretation, kein Faktum der Naturwissenschaft. 
  Naturwissenschaftlich gesehen, ist sie angesichts des heutigen Wissensstandes 
  sogar äusserst fragwürdig.
 Für Betroffene hat diese Plausibilisierung des Wesens der Gene oft direkte 
  Konsequenzen. Wenn PatientInnen eine an ihnen festgestellte Mutation eines Tumorgens 
  für eine Art gespannte Feder halten, die in ihrem Körper verborgen 
  ist, und zu Krebs führen wird, sobald sie losgeht. Oder wenn eine Patientin 
  mit einer Mutation im BRCA1 Gen in ihrem eigenen Körper eine Art tickende 
  Zeitbombe spürt. Beide Male wird das Gen für einen Bestimmungsfaktor 
  in der Art eines körperhaften Befehls gehalten, das in der Zukunft eine 
  Eigenschaft des Körpers bestimmen wird.
 Eine Konsequenz daraus ist: was genetische Information ist, was sie für 
  Betroffene bedeutet, ist nicht klar verständlich, ohne die Kontexte der 
  Interpretation mitzuberücksichtigen. In die Entscheidungen fliesst nicht 
  pures Faktenmaterial über die DNA ein, sondern interpretierte Information. 
  Genetische Informationen, die so entstehen und entscheidungsrelevant werden, 
  verändern das Leben, schaffen für alltägliche Lebensentscheidungen 
  neue Voraussetzungen. Entscheidungen, die vorher keine "genetischen" 
  waren, werden jetzt zu "genetischen Entscheidungen". Zum Beispiel 
  ein Kind zu bekommen, wird zu einer Entscheidung mit einer genetischen Komponente. 
  Gute Beziehungen zu den Familienmitgliedern unterhalten, schliesst nun in der 
  Wahrnehmung von Betroffenen unter Umständen ein, ihnen gewisse genetische 
  Informationen weiterzusagen, die sie brauchen können. Das können aber 
  bad news sein - Informationen über ihnen drohende Krankheiten. Thesen:1) HPG und die neuen Testmöglichkeiten fügen wichtigen Entscheidungen 
  über die Lebensgestaltung eine explizit genetische Komponente hinzu.
 2) Dies transformiert die familiären und sozialen Beziehungen und die "Körperkonzepte".
 3) Wie diese Transformationen konkret aussehen, hängt nicht nur von den 
  verfügbaren Daten ab, sondern wesentlich von den Mustern, mit denen sie 
  gesellschaftlich-kulturell interpretiert werden.
 
 Das genetische Programm als nach wie vor vorherrschendes Muster hat folgende 
  Implikationen: Der Körper wird wahrgenommen als heteronome Struktur, unter 
  der Kontrolle eines genetischen Programms. Unsere Daseinsweise ist ein Ausführen 
  von codiert mitgeführten Instruktionen und das Produziertsein durch die 
  Befolgung dieser Instruktionen.
 Ein kontextuelles, "systemisches" Genverständnis, das heute 
  angesichts der molekularbiologischen Faktenlage eigentlich näher liegen 
  würde, hätte andere Implikationen. Der Körper ist eine aktiv 
  selbstorganisierende Struktur, die der DNA in jedem einzelnen Entwicklungsschritt 
  die Informationqualität selektiv verleiht. Dasein ist dann ein Sich-selbst-finden 
  in Beziehungen zur Umwelt und ein gegenwärtiger Gestaltungsprozess, dessen 
  Regelmässigkeit genauso aktuell hervorgebracht ist, wie die Abweichungen 
  von der Regel.Als Konsequenz möchte ich formulieren: In der Neukartierung des Menschen, 
  die durch das HGP ausgelöst wird, öffnen sich auch neue Räume. 
  Die Richtung, in der das Menschenbild und die Ethik durch die Genetik verändert 
  werden, ist nicht festgelegt. Die Auslegung der Genomik jenseits der Meta-Erzählung 
  "Text" und "genetisches Programm" steht heute aber erst 
  am Anfang.
 
 
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